31. Dezember 1965
(Über Satprems letzten Brief an Mutter:) Hast du meine Antwort bekommen? (Mutter macht eine Geste mentaler Kommunikation) Nein? Ich habe dir sehr viel gesagt, sehr viel.
(Mutter lacht, dann nach einem Schweigen:) Weißt du wirklich nicht, wo deine Schwierigkeit liegt?... Ist das nicht eine Unzufriedenheit? Das, was man im Englischen "Frustration" nennt, etwas, das enttäuscht ist?
Ja, aber dieses "Unerfüllte" ist ein Gefühl, das man hat und das man bis zur Verwirklichung, bis zur Transformation haben muss. Das ist nicht nur natürlich, sondern sogar unerlässlich, denn bei jenen, die sich erfüllt oder zufrieden fühlen, ist die Sache gelaufen, sie rühren sich nicht mehr.
Diese Art von longing [Sehnsucht], das Gefühl, dass einem etwas fehlt - etwas, das man haben möchte, das einem fehlt -, wird um so stärker, je weiter man geht.
Aber das ist ja großartig, mein Kind! Das heißt, dass du den Bereich der mentalen Gebilde verlassen hast. Die mentalen Formationen sagen: "Man ist auf diesem Weg" oder "Man steht an jenem Punkt der Verwirklichung" oder... Für mich ist das bedauernswert! Wenn man da drin steckt, ist man immer noch ein Gefangener der mentalen Denkart.
Aber weißt du genau, wohin du gehst?
Niemand weiß das, mein Kind! Niemand, auch ich nicht. Und es ist gut, das nicht zu wissen.
Weißt du (soll ich offen sein?), das ist lediglich eine vitale Unzufriedenheit. Soviel weiß ich, denn das war schon immer (wie soll ich sagen?) meine große Schwierigkeit mit dir. Früher war es hundertmal, tausendmal heftiger; jetzt fängt es an, sich zu beruhigen. Es liegt an einem von sehr intensiven Sehnsüchten geprägten Vital (es müssen überhaupt keine gewöhnlichen Begierden sein), aber eine fast aggressive Intensität und... es ist vor allem unbefriedigt. Vor Jahren war das wirklich sehr stark; jetzt hat es sich beruhigt. Aber immer, wenn das Vital auf den Plan tritt, ist es so (und man muss dem Vital aus gesundheitlichen Gründen einen gewissen Freiraum gewähren, man kann es nicht völlig unterbinden, weil der physische Körper dann leidet)... Wenn du so willst, gibt mir das den Eindruck eines Katzenvitals! Die Katzen haben ein fabelhaftes Vital (lachend). Sehr viel geschickter und intensiver als das der menschlichen Wesen, aber die Katze kratzt, und der Eindruck entsteht: "Ich bin nicht glücklich. Ich bin einfach nicht glücklich." (Mutter lacht)
Aber was verstehst du unter einer "Geste"?
Und was nennst du ein "Zeichen"?... Nun, ich glaube, dass du ein gewisses Vertrauen in mich hast, und wenn ich dir sage, dass du nicht nur Fortschritte machst, sondern sogar sehr schnell vorankommst, würde dir das etwas bedeuten? Du wirst mir sagen: "Beweise es mir!" - Ich kann es dir nicht beweisen, es ist etwas, das ich sehe, das ich weiß.
(Mutter lacht) Bist du sicher, dass du nie so etwas siehst?
Du sprichst von deinen nächtlichen Aktivitäten?
Aber ich habe dir doch gesagt, dass du vorankommst - und das reicht dir nicht! Du sprichst von einem "Bedürfnis zu wissen", aber du verlangst von mir einen Beweis.
Dann ist es dein Vital. Das habe ich dir ja gesagt. Und ich betone diesen Punkt: Dein Vital musste unter Kontrolle gehalten werden, weil... nun, wegen seiner Natur. Natürlich sagt es sich dabei: "All das will ich ja gar nicht; ich habe keinen Beweis, dass es vorwärts geht." Hast du keinerlei Zeichen einer psychischen Gegenwart in dir?
Aber, mein Kind, das ist ja wunderbar!
Manche Leute haben das eine Minute lang in ihrem Leben und machen eine wunderbare Verwirklichung daraus. Es ist immer da. Ich weiß sehr wohl, dass es immer da ist, ich weiß es, das ist für mich eine greifbare Tatsache.
Ich versichere dir, du kannst mir das glauben (Mutter lacht), ich habe da ein klein bisschen Erfahrung: dies ist getan. Um es poetisch auszudrücken: "Dein Kopf ist im Licht." Aber dein Vital will diese Verwirklichung nicht; dein Vital erstrebt eine vitale Verwirklichung wie zum Beispiel, als du im Urwald warst und dir mit der Machete den Weg freischlugst: es sucht das Gefühl von Lebenskraft. Und das wurde ihm verwehrt, aus yogischen UND materiellen Gründen - in beiden Extremen -, weil der Körper dafür nicht geschaffen wurde und (lachend) der Yoga damit keine Zeit zu verlieren hatte. Also ist Monsieur Vital wütend. Es wurde ihm gesagt: "Beruhige dich, sei ruhig, ganz ruhig; es ist schon gut, auch du sollst deine Freude haben, aber... transformiert!" Es ist vielleicht weniger kämpferisch oder empört oder aggressiv als früher, aber es ist nicht glücklich, und dieses Vital gibt dir den Eindruck: "Aber ich habe ja gar kein Zeichen, dass ich vorankomme, dass ich Fortschritte mache! Ganz im Gegenteil! Alles wird immer glanzloser, trübsinniger und gewöhnlicher und entspricht immer weniger meinem Ideal und meinen Wünschen..."
(Mutter nimmt Satprems Hände) Für mich bist du immer noch ganz klein und ganz jung, weißt du. Also los, sag mir, was du mir sagen willst.
Du hattest angefangen, mir etwas zu sagen, du sagtest: "Ganz so ist es nicht..." (lachend) natürlich!
Aber, mein Kind, auch ich warte - ich bin Millionen Jahre alt, und ich warte. Gerade dieser Tage bin ich in dem Zustand, den du beschreibst, in dem man sich fragt: "Aber wo, wo nur ist der konkrete Beweis, dass sich das alles ändern wird?" Die Dinge sind wirklich nicht schön anzusehen - wo ist da der konkrete Beweis? Und immer wieder werde ich davon bestürmt, die schwerste Prüfung, der man überhaupt ausgesetzt sein kann: Sri Aurobindos Weggang. Denn Sri Aurobindo sprach immer so, als würde er nicht gehen. Deshalb kommt dies immer wie eine Verneinung: "Schau her, all das sind Träume für spätere Jahrtausende." Und es kommt wieder und wieder und wieder (Geste des Behämmertwerdens); worauf so etwas wie ein Schwert aus Licht kommt, unberührbar: Die Gewissheit. Dann fragt man nicht mehr - man sagt nichts mehr, man fragt nicht mehr. Man hat die Geduld des Glaubens: "Wenn Du willst, dann wird es sein." Jedenfalls gebe ich nicht mehr nach, ich bleibe so (nach oben gekehrte Geste): das unversehrte Licht. Alle äußeren Ereignisse widersprechen dem. Trotz der inneren Transformation (die gewiss ist, man erhält jede Sekunde Beweise dafür) behält der Körper die Gewohnheit des Zerfalls. Und gerade wenn man glaubt, die Dinge renkten sich ein (eben um einem einen Beweis zu geben, dass man vorankommt), passiert etwas, als wollte es einem zeigen, dass all dies eine Illusion ist. Und es wird immer zugespitzter, immer heftiger. Immer kommt da eine Stimme (die ich gut kenne, es ist die Stimme der Gegenkräfte, die einen auf die Probe stellen), die einem sagt (gleiche Geste des Behämmertwerdens): "Sieh nur, wie du dich täuschst, wie du dir Illusionen machst, all das ist ein bloßes Trugbild, sieh nur..." Wenn man dem Beachtung schenkt, ist man verloren. Man ist ganz einfach verloren. Man kann sich also nur die Ohren zustopfen und die Augen schließen, um sich dann dort oben festzuklammern. Seit Sri Aurobindo gegangen ist, kommt dies unablässig wieder (gleiche hämmernde Geste), und weißt du: grausamer als jegliche menschliche Folter und alle nur erdenklichen Grausamkeiten. Das ist etwas entsetzlich Grausames, es enthält all die Bosheit der Grausamkeit, und es kommt wieder und wieder (gleiche Geste). Jedesmal, wenn das Wesen in einer Freude der Gewissheit aufblüht (gleiche Geste): "Sei ruhig!..." Deswegen sage ich, die Verwirklichung ist nur für die Stärksten. Dann schämt man sich über das, was schwach in einem ist, und man opfert es auf: "Befreie mich von meiner Schwäche!" Dafür muss man schrecklich stark sein - die Kraft der Ausdauer, die sich durch nichts erschüttern lässt. Es kommt wie eine Bosheit in Perfektion, die nur da ist, um einem die ganze Zeit zu sagen (gleiche Geste): "Du täuschst dich, es ist nicht möglich, du täuschst dich, es ist nicht möglich..." Und dann: "Siehst du, hier ist der Beweis dafür, dass ich recht habe: Sri Aurobindo, der wusste, ging ja selber." Wenn man dem Beachtung schenkt und es glaubt, ist man rettungslos verloren. Das ist sehr einfach, man ist verloren. Und genau das wollen sie ja. Nur... sie dürfen keinen Erfolg haben, man muss sich festklammern. Seit wie vielen Jahren?... (hämmernde Geste) fünfzehn Jahre, mein Kind - seit fünfzehn Jahren (gleiche Geste). Kein Tag vergeht ohne solche Angriffe, keine Nacht... Du sagst, du sähest Schreckliches - mein Kind, deine Schrecken müssen etwas sehr Charmantes sein im Vergleich zu den Schrecken, die ich zu Gesicht bekomme! Ich glaube, kein menschliches Wesen könnte den Anblick der Dinge ertragen, die ich gesehen habe. Und all dies wird mir gezeigt, wie um mir zu sagen, dass meine sämtlichen "Ambitionen" verrückt sind. Ich habe darauf nur eine Antwort: "Herr, Du bist überall, Du bist in allem. Wir müssen nur lernen, Dich durch alles hindurch zu sehen." Erst dann beruhigt es sich. Ich habe dir das bereits gesagt, und zwar nicht, um dir eine Freude zu machen oder dich zu trösten, sondern weil es eine Tatsache ist, die ich selber mit Neugier und Interesse beobachtet habe: Dort oben, im tiefen intellektuellen Verständnis und im großen Licht, sind wir uns außerordentlich nah. Und das zeigt sich in übereinstimmenden Erfahrungen im intellektuellen Bewusstsein. Ich weiß von deinen Schwierigkeiten, ich kenne sie, ich erkannte sie schon am ersten Tag, als ich dich sah (schon bevor du hierher kamst); in dieser Beziehung ist bereits ein großer Fortschritt erzielt worden, außer dass deine Gesundheit durch diesen Kampf erschüttert wurde. Ich weiß, dass du vollkommen geheilt werden kannst, aber um vollkommen geheilt zu werden, muss sich dein Vital umwandeln - und mit Umwandeln meine ich nicht, sich unterordnen - umwandeln heißt verstehen. Umwandeln heißt mitwirken. (Satprem legt seinen Kopf auf Mutters Knie)
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ISBN 3-920083-06-4 E n d e d e s s e c h s t e n B a n d e s |